Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie möchten gerne mit Ihrem Mann Urlaub in Indien machen, er aber möchte lieber nach Dubai. Sie können sich nicht einigen und so holen Sie Zirkel und Geodreieck und finden das Land, das genau zwischen den beiden Ländern liegt: Afghanistan. Am Flughafen Kabul angelangt, in eine Burka gehüllt, überkommen Sie Zweifel, ob der Kompromiss wirklich die beste Lösung war. Tatsache ist: ein Kompromiss ist eine reine Lose-lose-Situation, da niemand zufrieden ist. Jeder gibt ein Stück von dem auf, was er eigentlich wollte. Win-win ist ein überstrapazierter Begriff, aber aus meinen Seminaren weiß ich, dass fast niemand versteht, was er bedeutet. Die meisten sehen hier nichts anderes als die Mitte zwischen zwei Positionen, also einen Kompromiss.
Finde heraus, was der Andere wirklich will
Gerade dann, wenn uns der Verhandlungspartner besonders am Herzen liegt und wir wirklich nur sein Bestes wollen, gehen wir voreilig Kompromisse ein. Psychologen verglichen einmal das Verhalten von Paaren mit dem von Fremden: Alle sollten ein Verhandlungsszenario durchspielen. Die Paare waren deutlich freundlicher zueinander, sie begannen mit bescheideneren Eröffnungsangeboten und kamen einander relativ schnell entgegen. Sie passten ihre Positionen also sehr schnell einander an. Allerdings waren sie viel schlechter als die Fremden darin, die wahren Interessen des anderen herauszufinden.
Wir sind harmoniebedürftig und versuchen, Konflikte mit Kompromissen im Keim zu ersticken: „Bevor wir uns streiten, fahren wir doch einfach da hin, wo wir letztes Jahr schon waren. Das fanden wir doch alle nett.” Und so lernen wir schon als Kinder um des lieben Friedens willen nachzugeben. Kompromisse unterliegen aber dem völlig falschen Gedanken, dass sich unsere Interessen unvereinbar gegenüberstehen. Tatsächlich aber hat jeder Mensch andere Bedürfnisse. Diese zu ergründen ist der Schlüssel zum wahren win-win.
Eine der bekanntesten Geschichten aus der Welt der Verhandlungstrainings ist diese: Zwei Schwestern streiten sich um eine Orange. Nach Geschrei und Tränen kommt schließlich die Mutter, holt ein Messer und schneidet die Orange in zwei Hälften. Ein scheinbar salomonisches Urteil und ein Kompromiss wie aus dem Bilderbuch. Und wieder einmal lautet das Ergebnis: Lose-lose. Warum? Eine von beiden braucht die Orange, um einen Saft daraus zu pressen, die andere benötigt die Schale für einen Kuchen. Anders als die Schwestern denken, widersprechen sich ihre Interessen überhaupt nicht.
Vermeide den faulen Kompromiss!
Unzählige Verhandlungen sind von Anfang an so strukturiert, daß nichts als ein Haufen fauler Kompromisse dabei herauskommen kann: Häufig kommen die unterschiedlichen Verhandlungspunkte nämlich nicht gleichzeitig auf den Tisch, sondern werden nach einer Liste abgearbeitet. Bei Scheidungen, Schlichtungen, aber auch bei größeren wirtschaftlichen Transaktionen werden solche Listen gerne von Anwälten erstellt: erst der Preis, dann das Lieferdatum, schließlich das Servicepaket und so weiter. Bei jedem dieser Punkte versuchen beide Seiten, das Maximum herauszuschlagen. Das Ergebnis? Man handelt einen Liefertermin aus, der irgendwo in der Mitte liegt und ein ebenfalls mittelmäßiges Servicepaket. Niemandem ist mit einer Anhäufung von Kompromissen gedient. Vielleicht ist der Käufer in Eile und ihm ist der Liefertermin daher sehr wichtig, aber der Service ist ihm völlig egal, weil er eine eigene IT-Abteilung im Haus hat, die eventuell auftretende technische Probleme lösen kann. Das optimale Ergebnis wäre hier also ein rascher Liefertermin ohne Servicepaket. Die wahren Interessen der Verhandlungspartner können nur berücksichtigt werden, wenn sie die Verhandlung als großes Ganzes sehen.
Bei dem Streit um den Urlaub geht es Ihnen vielleicht darum, eine fremde Kultur kennenzulernen, Ihr Partner aber möchte vor allem Ruhe und Strand. Statt um die vermeintlich gegensätzlichen Reiseziele Indien oder Dubai zu streiten, suchen Sie gemeinsam eines, das beide Wünsche erfüllt, zum Beispiel Oman. Das ist eine Kooperation, aber kein Kompromiss. Gerade wenn die Verhandlungspartner einander vertrauen, wird der Prozess weniger einem Feilschen gleichen als einer gemeinsamen Suche nach Ideen. So gelangen Sie zu Ergebnissen, die deutlich besser sind als ein einfacher Kompromiss, eben zu wahrem win-win!
Dieser Artikel ist auch im Focus erschienen.
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